Elena Maria Müller

Videojournalistin und Moderatorin

Hochsensibilität ist mehr als ständige Überforderung

In der Luft liegt der Geruch von Essen, die Jeans juckt, das Radio läuft, Tastaturgeklapper, eine Person klopft mit dem Stift auf den Bürotisch, jemand liest ein Horoskop vor, die Füsse sind kalt, irgendwer hat ein neues Parfum, die Person, die ins Büro läuft, grüsst nicht so fröhlich, wie sie es sonst tut.
Das alles können hochsensible wahrnehmen – meist gleichzeitig.

Hochsensibilität wird immer öfter thematisiert. Zum einen schreitet die Forschung weiter voran, zum anderen tragen – wie so oft – die Sozialen Medien dazu bei. Auf TikTok beispielsweise kursieren diverse Videos, in denen Merkmale der Hochsensibilität aufgezeigt werden und man ist versucht, diese Anzeichen bei sich selbst festzustellen. So ähnlich erging es der 3FACH Moderatorin Kira Ilie. Erst als in ihrem TikTok-Feed wiederholt solche Videos auftauchten, begann sie sich mit der Hochsensibilität auseinanderzusetzen.

Videos dieser Art finden viel Zuspruch und verleitet einige, Hochsensibilität als “Label” für sich zu verwenden. Mehr dazu weiter unten im Text.
Ein komplexer Wesenszug

Hochsensibilität oder Hochsensitivität bedeutet das Gleiche. Da der Begriff Hochsensibilität teilweise negativ konnotiert ist und der Begriff Hochsensitivität mehr auf die Wahrnehmung abzielt, benutzen Expert*innen letzteren lieber. Im folgenden Text werden die beiden Begriffe abwechselnd verwendet.
Hochsensitivität wird nicht diagnostiziert. Es gibt verschiedene Tests, die absolviert werden können und Fachpersonen können Hochsensibilität anhand unterschiedlicher Merkmale feststellen. “Der Test von Elaine N. Aron ist einer der Besten, den ich kenne. Er kann erste Anhaltspunkte liefern. Der Test allein reicht jedoch nicht, es gibt nämlich auch verwandte Phänomene”, sagt Expertin Ruth Stricker. Sie ist selbst hochsensitiv und bietet Beratungen dazu an. Menschen mit Depressionen können beispielsweise ähnliche Verhaltensweisen wie hochsensible aufweisen.

Ruth Stricker entdeckte ihre Hochsensibilität vor 17 Jahren. Nun hilft sie anderen, mit dieser Eigenschaft umzugehen.

Hochsensibilität ist ein Wesenszug unabhängig vom Geschlecht. 15-20% der Menschen sind hochsensibel und so individuell jede Person ist, so anders zeigt sich die Hochsensibilität. Es gibt jedoch Merkmale, die auf alle hochsensiblen Personen (HSP) zutreffen. So nehmen hochsensitive mehr Reize wahr und verarbeiten diese auch intensiver. HSP Erkennen also viele Feinheiten, sind deshalb auch schneller Überstimuliert. Überdies wird davon ausgegangen, dass ebenso viele Primaten hochsensibel sind.

Der HSP-Experte Georg Parlow unterscheidet drei Bereiche, in denen sich die Hochsensibilität zeigen kann:

Tippe auf die Icons um mehr über den jeweiligen Bereich zu erfahren.

Viele HSP sind in zwei oder in allen Bereichen sensibel, meist haben sie einen Schwerpunkt in einem der Bereiche. Ausserdem sehen sich etwa 70% der HSP als introvertiert und 30% als extrovertiert. Extrovertierte HSP haben eine schmale Komfortzone, denn sie sind schnell gelangweilt und leicht überstimuliert. Hier gilt es besonders auf eine gute Balance zu achten.
Ein weiterer Fakt: Sehr viele HSP erschrecken leicht. In anderen Worten: Von Hinten anschleichen ist keine gute Idee.

Licht, Geräusche, Temperatur, Druck, Gerüche – so ist es sensorisch hochsensibel zu sein

Moderatorin Kira hat für diese Diplomarbeit ihre eigene Hochsensitivität erforscht. Sie hat mehrere Tests dazu absolviert und auch mit einer Psychologin darüber gesprochen. Kira ist mitunter im sensorischen Bereich hochsensibel und um zu zeigen, wie sie die Welt wahrnimmt, hat sie sich in ein Café gesetzt und erzählt, was ihr auffällt und wie sie sich dabei fühlt.

Sich bei dabei noch auf ein Gespräch zu konzentrieren ist für Kira nicht einfach.
Die Sache mit der Überstimulation

Gefühlswellen, Gedankenflut, das Einprasseln unterschiedlichster Sinneseindrücke. Alldem kann man nicht ständig aus dem Weg gehen. Kein Wunder also, werden Hochsensitivität und Überstimulation oft im selben Satz genannt. Hochsensitive haben eine höhere Rückzugstendenz und brauchen länger, erlebtes zu verarbeiten.

“Wenn ich überstimuliert bin, wirkt alles noch viel gestresster, ich sehe nicht mehr richtig, niemand darf mich anfassen. Ich hatte deswegen auch schon Panikattacken”, erklärt Elena Herger. Sie zählt sich zu den Introvertierten und hatte lange Zeit Mühe mit ihrer Hochsensibilität. Deshalb sei es lohnenswert, sich mit diesem Wesenszug auseinander zu setzen, denn so könne man sich viel Druck ersparen und besser damit umgehen erzählt die 23 Jährige. Elena hat sich oft gefragt, weshalb ein Clubbesuch für sie so viel anstrengender ist, als für ihre Freund*innen.

“Wer die eigene Hochsensitivität nicht erkennt, läuft Gefahr, meist im orangen oder roten Bereich, anstatt im grünen zu sein”, weiss Ruth Stricker. Beratungen können dabei helfen, die eigene Überstimulation schneller zu erkennen und individuelle Erholungsmöglichkeiten zu finden.

Elena ist im emotionalen und sensorischen Bereich sensibel. Deshalb merkt sie schnell, wie es ihren Freund*innen wirklich geht.
Einfach mal chillen

Hochsensible müssen die “Gebrauchsanweisung” für ihre Hochsensibilität selbst schreiben und somit auch eigene Wege finden, um mit diesem Wesenszug und besonders der Überstimulation klar zu kommen. Ganz allgemein helfen Achtsamkeitsübungen, Meditation, genügend Schlaf, Wasser trinken, ein Spaziergang in der Natur und am wichtigsten sei es, so die Expertin, diesen Wesenszug zu akzeptieren und nicht dagegen anzukämpfen. Für Aussenstehende sei es enorm wichtig, den HSP ihre Gefühlslage nicht abzusprechen und klar über diese zu kommunizieren.

Die Hochsensibilität als Vorteil nutzen

Jemand, der mittlerweile ziemlich cool mit seiner Hochsensitivität ist, ist Elia Catena. Er sieht sich als vantage sensitiv und klar als extrovertierte Person. Das bedeutet, dass er sich seiner Sensitivität bewusst geworden ist, mit dieser nun gut umgehen kann und dass er nun vor allem die positiven Erlebnisse tiefgreifend wahrnimmt. Es kann nämlich enorm schön sein, auf einen Markt zu gehen und all die Eindrücke auf sich wirken zu lassen. Wenn ihm doch mal alles zu viel wird, versucht Elia zu meditieren und entspannt bei seinem Lieblingsplatz dem “Rum-Bänkli” in Solothurn.

Auf die Frage, was Social Media mit ihm mache, antwortet Elia: “Ich habe das Gefühl darin zu verschwinden.”
Er müsse Social Media und Nachrichten sehr bewusst konsumieren, ansonsten überkommt Elia das Gefühl, der gesamte Schmerz dieser Welt laste auf seinen Schultern. Für HSP kein unbekanntes Gefühl.

Der 23 Jährige fühlt sehr intensiv und trägt seine Empfindungen auch gerne nach aussen.
Daten, Dauer und selber denken

Mike Schwede kennt sich mit Social Media bestens aus. Als Digital Strategist bringt er den Online-Auftritt von Firmen auf den neusten Stand und er kann erklären, weshalb Kira TikToks über Hochsensibilität gesehen hat, obwohl sie sich zuvor nicht damit auseinandergesetzt hat. “Der Algorithmus sammelt Daten wie, Alter, Geschlecht, Abo-Anbieter usw. und nach 20-30 Videos weiss der Algorithmus schon sehr gut über dich bescheid.” Ausschlaggebend sei die Dauer, die man ein Video anschaut. Besonders an TikTok sei auch, dass der Algorithmus immer mal wieder neue Videos anzeige. Es kann also gut sein, dass plötzlich ein Rezepte-Video im Feed auftaucht und der Algorithmus so merkt, ob einem das gefällt oder nicht.

Mike setzt sich seit längerem mit TikTok auseinander. Mit dieser Plattform erreicht man besonders viele Menschen.

Auch Mike rät zum bewussten Umgang mit Social Media. Auf Privacy sollte ebenfalls geachtet werden, denn es werden sehr viele Daten gesammelt. “Informationen sollten nicht immer für bares genommen werden. Wenn dich ein Thema länger beschäftigt, solltest du mal danach googeln und dich informieren.” So ist es auch mit den HSP-Videos auf TikTok. Es ist gut möglich, dass sich viele Personen bei dem einen oder anderen Merkmal wieder erkennen, immerhin haben alle ein gewisses Mass an Sensibilität.

Hochsensibilität sei aber kein Trend, denn es gab schon immer HSP. Das Bewusstsein dafür habe zugenommen. Die Gefahr des Labels sei, dass man sich speziell fühlen möchte oder die Hochsensibilität als Ausrede benutzt werde. Dafür sollte die Hochsensibilität nicht missbraucht werden, so Ruth Stricker.

Wiederum sei es eine Chance, eine Erklärung zu haben. Das erleichtert es zu verstehen wie eine Person tickt.


Wer noch weiter in die Welt der Hochsensibilität eintauchen möchte, kann sich mit diesen Büchern befassen:

Das Buch “Sind Sie hochsensibel?” von Elaine N. Aron regt stark zur Reflexion an. Aron gilt als Koryphäe, wenn es um HSP geht.
Wer es spirituell mag und sehr empathisch ist, könnte am Buch “Hochsensibel ist das neue Stark” von Anita Moorjani gefallen finden. Sie hat eine Nahtod-Erfahrung gemacht und setzt sich seither mit der Hochsensibilität auseinander.
Sehr wissenschaftlich gehalten ist das Buch von Georg Parlow “Zart besaitet”, dessen Erkenntnisse auch stark in diesen Beitrag eingebunden wurden. Hier geht es ausserdem zur gleichnamigen Website.

Wer sich noch weiter mit Algorithmen auseinandersetzen möchte, findet hier vielleicht noch einige Antworten von Mike Schwede.

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